Bild: pixabay / Christian Northe
Interview (transkribiert) mit Rainer Simader (RS) aus Wien, Physiotherapeut und Autor
Fragende: Marlis Lamers (ML), Kommunikation Wortlos
Mein Name ist Rainer Simader, ich bin Physiotherapeut und bin viele Jahre im Kontext der Hospiz- und Palliativversorgung als Therapeut tätig gewesen.
Dort habe ich praktisch als klinisch tätiger Therapeut gearbeitet, habe viel unterrichtet, habe zu dem Thema publiziert und freue mich sehr über spannende Fragen zu dem Thema.
ML: Was kann Physiotherapie noch bei einem schwerstkranken vielleicht finalen Menschen erreichen?
RS: Das ist tatsächlich eine häufige Frage, die mir gestellt wird, weil viele Menschen mit Physiotherapie ja nicht unbedingt das Lebensende assoziieren.
Wir alle kennen Physiotherapie, wenn der Rücken schmerzt, wenn die Schulter weh tut, wenn wir einmal eine Knieoperation gehabt haben. Das sind so die ersten Assoziationen mit Physiotherapie. Und das ist natürlich auch eine berechtigte Assoziation..
Wenn wir uns aber ansehen, was Lebensqualität am Lebensende ausmacht, und da können wir auch viele Studien dazu heranziehen, dann ist das zum einen, dass Menschen dann eine gute Lebensqualität haben, wenn die Symptome gut kontrolliert sind.
Aber was auch als ein ganz wesentlicher Faktor zur Lebensqualität am Lebensende beiträgt, und das ist tatsächlich auch eine häufig geäußerte Sorge von Menschen, die sich so im Prozess zum Lebensende befinden, dass die Selbstständigkeit, also auch die körperliche Selbstständigkeit, reduziert wird. Dass auch die Aktivitäten des täglichen Lebens nicht mehr selbstständig gemacht werden können, angefangen von selbstständig einkaufen zu gehen bis hin zu selbstständig auf die Toilette zu gehen und natürlich auch in dem Kontext der Partizipation also der sozialen Teilhabe gibt’s hier viele Ängste und auch Wünsche und Bedürfnisse und auch da brauche ich gewisse körperliche Fähigkeiten und Funktionen, um auch sozial teilhaben zu können in den letzten Phase des Lebens.
Hier ist die Aufgabe der Physiotherapie recht klar beschrieben: wir können mit, und das heißt in der Fachsprache nonpharmakologische Interventionen, also alles, was nicht mit Medikamenten zu tun hat, einiges dazu beitragen, dass tatsächlich Symptome gelindert werden.
Atemnot, Angst und Schmerzen
Ein großes Thema in der Palliativversorgung ist das Thema Atemnot.
Wir wissen aus Studien, dass die nicht medikamentöse Therapie der Atemnot gerade in Kombination mit Angst teilweise den pharmakologischen Interventionen gegenüber deutlich besser funktioniert.
Auch ein großes Thema ist Schmerz.
Wenn ein großer Tumorschmerz vorhanden ist, natürlich ist da Morphin die erste Wahl und es ist ganz notwendig, aber es geht auch nicht nur um Tumorschmerzen am Lebensende. Wenn wir uns ansehen, dass Bewegung ein sehr guter heilender Mechanismus bei Schmerz ist, wird auch hier klar, dass eine gewisse Gelenkbeweglichkeit und allgemeine Aktivitäten des Körpers häufig dazu beitragen, dass das Schmerzniveau geringer wird.
Weitere behandelbare Symptome
Zum Beispiel Ödeme entstehen häufig, dann behandelt man die über manuelle Lymphdrainage. Auch Verstopfung (Obstipation) ist ein häufiges Symptom am Lebensende aus unterschiedlichen Gründen, nicht nur wegen der Morphine, sondern auch, weil die Menschen sich weniger bewegen, weil die Ernährung sich verändert. Hier ist über Bewegung oder Massagetechniken Linderung zu erreichen.
Oder das häufigste Symptom am Lebensende ist die sogenannte Fatigue, also die chronische Müdigkeit oder Erschöpfung. Hier sagt die Literatur eindeutig, dass ein höheres Aktivitätsniveau also mehr Bewegung im Rahmen dessen was möglich ist, bei Menschen, die am Lebensende sind, die einzige wirklich wirksame Methode ist, dieses Müdigkeits- und Erschöpfungssyndrom am Ende des Lebens gut zu beeinflussen.
Schmerzgedächtnis und Angstvermeidungsverhalten
ML: Dieser Zusammenhang ist mir tatsächlich neu.
Ich wusste das Bewegung hilft ja, bei Schmerzen ist das sehr einleuchtend, weil wir ja auch ein Schmerzgedächtnis haben und dieses wird direkt an getriggert durch verschiedene Botenstoffe und verschiedene Handlungen von der anderen Seite und wenn man das eben durch Bewegung oder zielgerichtete Intervention ein bisschen beeinflussen kann, das man dann weniger Schmerzen empfindet, das ist verständlich.
RS: Was da noch dazu zu sagen ist, einerseits ist es das Schmerzgedächtnis, aber andererseits gibt es häufig am Lebensende ein sogenanntes Angstvermeidungsverhalten. Das heißt, Menschen am Lebensende haben ganz häufig Angst und zwar große Angst, dass durch Aktivität die Situation, in der sie sind schlechter wird und deswegen vermeiden sie Bewegung.
Das ist eine sehr unbegründete Angst. Ganz viele Menschen hören am Lebensende: „Ruh dich aus, schon dich“, das fördert einen ganz gefährlichen Teufelskreislauf durch den Menschen am Lebensende durch immer weniger Bewegung tatsächlich in ihrer Selbstständigkeit, in ihrer Autonomie immer mehr eingeschränkt sind.
Die Literatur zeigt eindeutig, dass Menschen mit einem geringen Funktionsniveau in der Regel höhere Symptome haben und an dieser Stelle brauchen wir tatsächlich nicht nur Physiotherapeuten und Therapeuten, sondern das gesamte multiprofessionelle Team, damit wir es schaffen, Menschen so viel Vertrauen in ihren Körper zu geben, dass vieles noch möglich ist.
Übung bis zum letzten Atemzug
Wir haben häufig in der Hospiz- und Palliativversorgung erlebt, dass Patienten in einem Zustand zu uns gekommen sind, den wir Dekonditionierung nennen. Kraft und Ausdauer waren eigentlich ganz weg, aber die gute Nachricht ist, dass Patienten und Patientinnen auch am Lebensende bis zuletzt wirklich trainieren können. Das heißt der Körper hat Reserven, aber da braucht es zielgerichtete Anleitung damit diese Reserven wieder heraus gekitzelt werden können. Und Patienten können ihren Zustand bis zum Lebensende sehr gut verbessern, auch was körperliche Funktion betrifft.
Akzeptanz der Physiotherapie auf beiden Seiten
ML: Wie groß ist denn, aus deiner Erfahrung, die Akzeptanz des Patienten und auch des verschreibenden Arztes oder des Ärzteteams, noch einmal eine Physiotherapie zu verschreiben im Zustand der palliativen Versorgung? Bei meiner pflegebedürftigen Mutter sollten wir immer für Schonung und Ruhe sorgen.
RS: Da hat sich, in den letzten Jahren schon viel getan.
Das, was du aus der Erfahrung der Pflege deiner Mutter gesagt hast, war tatsächlich lange Zeit so ein Stück die Grundhaltung. Und das war früher auch wissenschaftliche Meinung, aber nur die Meinung eben, dass Bewegung gefährlich ist und man da viel falsch machen kann.
Das ist in der Wissenschaft mittlerweile deutlich revidiert worden und es gibt hier unterschiedliche Herangehensweisen.
Aus der Erfahrung kann ich sagen, dass es gerade im Hospiz- und Palliativbereich, in der spezialisierten Versorgung, eine große Bereitschaft gibt und es gibt auch viele Physiotherapeuten aber auch Ergotherapeuten, die in diesem Feld arbeiten und ihren Platz gefunden haben.
Hier ist auch in der Ärzteschaft mittlerweile eine größere Bereitschaft als früher.
Aber da ist sicher noch Luft nach oben.
Aufklärung gehört zur Arbeit eines Physiotherapeuten
Auf Seite der Patienten und Angehörigen ist es häufig tatsächlich so, das wie eingangs gesagt, die Assoziation mit Physiotherapie häufig die ist, das es nicht unbedingt mit Palliativversorgung verbunden ist, sondern da kommen eher Erfahrungen hoch: „Ich hatte ja früher mal einen Kreuzbandriss oder Rückenschmerzen und da musste ich ganz viel trainieren.“
Das ist natürlich etwas, was in der neuen Lebenswirklichkeit von Palliativpatienten nicht so gut integriert werden kann und es ist tatsächlich einer meiner ersten Aufgaben, wenn ich mit Patienten oder auch den Angehörigen arbeiten soll, ganz viel zu erklären.
Wie wirkt eigentlich Bewegung? Wie wirken passive Maßnahmen, die ich machen kann? Wie Massagen, wie Lymphdrainagen, auch Entspannungstraining?
Wie wirkt sich das auf das Wohlbefinden und auf die Lebensqualität aus?
Wenn diese Brücke geschaffen worden ist, wenn wir vom Gleichen sprechen, dann hat die Physiotherapie in der Regel eine sehr hohe Akzeptanz, weil man oft sehr schnell merkt, dass Dinge auch besser werden.
Lebensende in einer berührungsarmen Umgebung
Ich möchte da nur ein Beispiel anführen, es ist das Thema Berührung.
Wir alle wissen, dass wir Physiotherapeuten sehr viel mit Berührung arbeiten.
Das können Massagetechniken sein oder wir berühren bei Korrektur von angeleiteten Übungen. Das ist oft eine ganz andere Form der Berührung, als die, die am Lebensende stattfindet.
Die vielschichtigen Ebenen der Physiotherapie
Wir wissen prinzipiell, dass Menschen am Lebensende in einer sehr berührungsarmen Umgebung sind und wenn sie berührt werden, ist es häufig sehr funktional zum Beispiel bei der Körperpflege: da wird man gewaschen, da wird man positioniert,
Gerade wir in der Physiotherapie haben oft mehr Zeit, wir sind da vielleicht eine halbe Stunde, manchmal auch eine dreiviertel Stunde mit dem Patienten zu Gange und da erlebe ich häufig, das Berührung auch berührt und Bewegung auch bewegt
Das ist glaube ich etwas, was in der Physiotherapie, auch wenn es nicht auf dem Rezept steht, eine große Wirkung hat und viel katalysiert, was am Lebensende auch noch notwendig ist. Auch auf einer psychischen, auf einer emotionalen, auf einer sozialen, manchmal auch auf einer spirituellen Ebene, die wir nicht vergessen sollten.
ML: Danke, lieber Rainer, für diese Einblicke in das Feld der Physiotherapie und Deinen wundervollen Merksatz: Berührung berührt – Bewegung bewegt.
Kontakt Rainer Simader:
www.rainer-simader.com
Als Gefühlsdolmetscherin ist es mir wichtig zu reden, wo andere schweigen. Themen wie Sexualität in der Pflege, Ekel und Scham dürfen kein Tabu bleiben! “Die Angst zeigt den Weg!” ist einer meiner Maximen.
Mit Mut und Haltung finden wir eine Möglichkeit, diese Themen auch in Ihren Einrichtungen wertschätzend und mit Weitblick zu behandeln.
Danke für diesen tollen Beitrag… werde hier auch in Zukunft zurückgreifen DANKE !!!! Liebe Grüße Carolin
Liebe Carolin,
herzlichen Dank für die schöne Rückmeldung und die Wertschätzung.