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Verlieren Menschen ihre verbale Sprache aufgrund einer Erkrankung, eines Schocks oder ähnlicher Ereignisse, fehlt ihnen ein wichtiger Kommunikationsweg. Wir haben uns vom gesprochenen Wort abhängig gemacht. Je mehr wir die verbale Sprache lernen, je mehr verlieren wir unsere angeborenen Emotionserkennungsfähigkeit.
Verstehen wir auch ohne Worte?
Fatal, wenn Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr ausgesprochen werden können. Aber ist das Wort so wichtig? Denken Sie einmal an eine Begegnung mit einem Säugling oder noch nicht sprechenden Kind: Sie haben in der Regel nach einer gewissen Zeit verstanden, warum das Kind weinte oder andere Gefühle zeigte. Ohne Worte, einfach durch das Beobachten der Mimik und aus dem Zusammenhang heraus.
Wir lernen fremde Kulturen kennen und reisen an die entlegensten Orte. Nicht immer können wir uns sprachlich verständigen, also behelfen wir uns „mit Händen und Füßen“! Und siehe da: es funktioniert! In dem Moment sind wir gezwungen, den Gesprächspartner ganz genau zu beobachten und Schlüsse aus unserer Wahrnehmung zu ziehen. Mag es vielleicht auch einmal zu Missverständnissen kommen; grundsätzlich können wir uns aber verständigen.
Gesichter lesen in der Pflege
Pflegen und betreuen wir Menschen ist es oftmals ähnlich. Die Sprache wird unverständlich, bevor sie ganz ausfällt. Oder aber die Worte passen nicht mehr zum Geschehen. Menschen, die an einer Aphasie (Wortfindungs- und Verständnisstörung) leiden, finden die richtigen Wörter nicht mehr oder nutzen sie im falschen Zusammenhang. Dazu kommt noch die Erinnerung der oft hochaltrigen Menschen: Kriegserlebnisse, Hunger, Armut, Heimatlosigkeit und fehlende Geborgenheit.
Ernst, 83 Jahre alt, sitzt auf dem Balkon seiner Tochter Franzi, die ihn pflegt und genießt den sommerlichen Schatten. Seit sich seine Demenz verschlimmert hat, lebt er in ihrem Haushalt und freut sich an den Enkelkindern. In der Ferne hört man das leise Hämmern einer Straßenbaumaschine. Franzi setzt sich zu ihrem Vater und bietet ihm eine kühle Limonade an: „Papi, magst Du etwas trinken? Schau‘ her, ich habe frische Orangenlimonade gemacht.“ Ernst schaut sie kurz an und wendet gleich wieder den Kopf ab. Es scheint, als ob seine Aufmerksamkeit von irgendetwas in den Bann gezogen würde. Franzi bemerkt für den Bruchteil einer Sekunde, dass seine unteren Augenlider und die Lippen angespannt sind. Er blinzelt vermehrt mit den Augen unter den nach oben zusammengezogenen Augenbrauen. Sein Körper wirkt starr. Die Hände knetet er, dass die Knöchel weiß werden. Es sind Zeichen für das Gefühl der Angst. „Papi, ich sehe, dass Dich etwas beunruhigt. Was ist los? Tut Dir etwas weh?“ Sie nimmt seine Hand und beobachtet ihn. „Hörst Du das nicht? Die Maschinengewehre, das Trommelfeuer? Sie kommen!“, ruft er sichtlich erregt und versucht, aufzuspringen. Franzi nimmt den Vater in die Arme: „Das ist der Lärm von einer Baumaschine in der Johannstraße. Du bist hier ganz sicher, Papi. Ich bin bei Dir. Dir kann nichts geschehen. Sollen wir uns gleich einmal die Baustelle ansehen? Die Bagger und Maschinen?“ Ernst beruhigt sich langsam. Sein Körper entspannt und nach einem Glas der kühlen Limonade bittet er, spazieren zu gehen.
Franzi hat die Zeichen der Emotion wahrgenommen, die über das Gesicht des Vaters huschten. Zusammen mit seiner Körpersprache erkennt sie daraus das Gefühl der Angst. Allerdings kann sie nie wissen, warum das Gefühl auftritt. In diesem Beispiel kann die Frau einen Zusammenhang zwischen dem Baulärm und den Kriegserlebnissen des Vaters herstellen. Hätte der Vater sich nicht so eindeutig geäußert, wären weitere Fragen oder Feststellungen nötig gewesen, um den Auslöser für das Gefühl beim Vater zu finden.
Die Emotionserkennung sammelt Informationen des gesamten körpersprachlichen Ausdrucks eines Menschen. Die Mimik zu lesen stellt einen bedeutenden Teil dar, der zudem sehr zuverlässig ist. Die Sprache ohne Worte wahrzunehmen ist leicht erlernbar, denn es sind zuverlässige muskuläre Bewegungen im Gesicht, die einer bestimmten Emotion zugeordnet werden.
Kenne ich das „Grundvokabular“ dieser Kommunikation bin ich in der Lage, das, was ich erkenne, zu übersetzen. Damit in Resonanz zugehen. Mit der verbalen Sprache herauszufinden, warum die Emotion auftritt, was sie getriggert hat.
Dem Bauchgefühl zu vertrauen fällt leichter, wenn ich die Mikromimik beherrsche und das, was ich spüre, mit dem, was ich sehe, zu verbinden
Kurzer Absatz als Fazit und Abschluß: Ist es möglich diese Gesichtszüge lesen zu lernen? Wie kann das in der Praxis leicht angewandt werden? …
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